Die Drápa

Die drápa war die beliebte Form des Preisliedes: der älteste uns bekannte Skalde Bragi inn gamli hat für sein Schildlied schon diese Form gewählt, und nachher haben die Fürsten immer die drápa als das ihnen gebührende Loblied betrachtet (1). Die metrische Form der drápa ist die dróttkvætt-Strophe (s. § 47). Auch die lausavísur, die uns von den ältesten Skalden überliefert worden sind (von denen aber eine nicht unbedeutende Zahl jüngeres Machwerk sein dürfte; s. § 76), haben regelmäßig denselben strophischen Bau; das dróttkvætt war also ebenfalls das Versmaß für die Stegreifpoesie. Daraus dürfen wir schließen, daß diese achtzeilige Strophe, die ihrer schwierigen Technik wegen in der höheren Kunstdichtung entstanden sein wird, schon so lange bei den Nordleuten gelebt hatte, daß sie auch in der Kunst des Alltags gebraucht werden konnte.

Eine drápa ist freilich weit mehr als eine lose Aneinanderreihung von dróttkvætt-Strophen — ein solches Lied wird flokkr genannt — sie ist ein wohlgeglidertes Ganzes, indem sie aus verschiedenen Teilen besteht, die durch einen Refrain (stef) abgeschlossen werden. Ob diese Teile gleichen Umfangs gewesen sind, läßt sich nicht feststellen, weil die Lieder der älteren Zeit nur trümmerhaft bewahrt geblieben sind; von mehreren Gedichten ist sogar nur so wenig bekannt, daß die stef-Zeilen ganz fehlen. Schon das Schildgedicht von Bragi zeigt diese Form der drápa; das stef enthält die Mitteilung, daß der Fürst Ragnarr ihm den Schild mit dem schönen Bilderschmuck geschenkt hat.

Die drápa besteht gewöhnlich aus drei Teilen: ein Mittelstück (stefjubálkr) mit den Refrainzeilen, und daneben Einleitung (upphaf) und einen Schlußteil (slœmr), die beide wohl gleich groß sein mußten. Der stefjubálkr wird durch das stef in gleich große Abschnitte eingeteilt; das stef besteht aus einer oder mehreren Zeilen, die zuweilen innerhalb einer Strophe oder über mehrere verteilt sind (klofastet, rekstef). In den ältesten drápas (wie Egils Hofuðlausn und Bragis Ragnarsdrápa) wird das stef in besondere Halbstrophen zerlegt (2).

Wir kennen aus der altgermanischen Poesie keine Beispiele für Refrainzeilen. Das muß also in Skandinavien eine Neubildung gewesen sein. Wir sehen dafür in der nichtskaldischen Kunst gar keine Voraussetzungen. Demgegenüber ist der Gebrauch von Kehrreimen in der geistlichen Dichtung des frühen Mittelalters (wie z. B. bei Otfrid) wohl bekannt. Es scheint demnach verlockend, hier den Einfluß lateinischer Formen anzunehmen. Aber es ist natürlich unmöglich, den Skalden des 9. Jahrhunderts Bekanntschaft mit der lateinischen Poesie zuzumuten; wie hat also der Kehrreim in Norwegen bekannt werden und dort seine Nachbildung im höfischen Preislied veranlassen können? Der Versuch, auch hier die Iren als Vermittler lateinischer Kunstformen eine Rolle spielen zu lassen (3), beweist nur, wie schwierig es ist, die verbindenden Fäden aufzudecken. Falls man Bragi als den Schöpfer der drápa betrachtet, könnte man ihm auch die Erfindung des Kehrreirnes zuschreiben, den er dann durch Vertrautheit mit irischen Gedichten gekannt hätte; aber was gibt uns das Recht anzunehmen, daß die erste uns überlieferte drápa auch wirklich der Ursprung dieser so furchtbaren Kunstform sein sollte?

Wir wissen über die Poesie vor Bragis Zeit nichts, und das erschwert uns wesentlich das Urteil. Es wäre ja gar wohl möglich, daß die Strophen eines Götterhymnus mit einem Anruf der Gottheit abgeschlossen wurden; es läßt sich auch denken, daß in der magischen Praxis bestimmte Wiederholungen zu Kehrreimbildungen geworden waren. Die Hauptsache ist vielleicht nicht einmal der Gebrauch von Refrainzeilen, sondern die Verwundung solcher Zeilen als Mittel zum organischen Aufbau eines Gedichtes. Es läßt sich denken, daß die Form des Schildgedichtes — einer in der altnordischen Frühzeit ziemlich häufig vorkommenden Gattung — den Kehrreim von selbst hat entstehen lassen, weil die Beschreibung der einzelnen Bildfehler eine Gliederung des Liedes in mehrere Szenen notwendig machte.

Wenn wir die Poesie des 11. oder 12. Jahrhunderts betrachten, bekommen wir den Eindruck, daß die drápa die vorherrschende Form des Preisliedes war. Der flokkr, das Preislied ohne Kehrreim, wurde jedenfalls als weniger bedeutend betrachtet; die Beispiele setzen auch erst ziemlich spät im Anfang des ll. Jahrhunderts ein (s. § 98). Durch eine glückliche Fügung ist uns aber die Skaldenpoesie gerade noch aus jener frühen Zeit überliefert worden, in der die drápa gar nicht die alleinherrschende Dichtform war, sondern daneben auch andere und ältere Formen gepflegt wurden (s. §§ 63 bis 65).

Wenn die drápa den Sieg davongetragen hat, so ist das für uns ein Fingerzeig, wie wir uns den poetischen Geschmack der Nordleute vorzustellen haben. Hier finden wir die Bestätigung dafür, daß das Einfache nicht mehr genügend fesseln konnte, nachdem
man an dem reichen Bilderschmuck der Skalden Gefallen gefunden hatte.

* * *

1) Man hat das Wort drápa, das zu drepa „schlagen“ gehort, auf verschiedene Weise erklärt. Vigfússon hat an das Schlagen der Harfe gedacht, F. Jónsson betrachtete es als das Lied, in dem von dem Erschlagen der Feinde erzählt wurde; G. Neckel, Vom Germanentum S. 259 „Gedicht von Hieb und Stich”. Einleuchtender ist die Erklärung von S. Nordal, APhS 6 (1931), S. 144-149, der darin einen Hinweis auf die Einfügung der Stef-strophe sieht, vgl. kvæði drepit stefjum.

2) Vgl. Möbius, Germania 18 (1873), S. 129-147.

3) Vgl. A. Heusler, Altgermanische Dichtung S. 130.

Sorge: Altnordische Literaturgeschichte, Berlin-New York 1999 (III), pp. 120-122.

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